Brigitta Klein aus dem Vorstand des Aktionskreises Pater Beda referierte anläßlich der Jahreshauptversammlung des Vereins (Nov. 2011) über ihre Erlebnisse während eines Gefängnisbesuches in
Brasilien:
Die Droge hat einen Namen
Itamaraca ist eine Insel vor Itapissuma gelegen, vier Städte = eine Autostunde von Recife (Pernambuco) entfernt. Ein Verkehrsschild zeigt die Richtung nach Joao Pessoa an. Dort ist der östlichste
Punkt Südamerikas oder der nahste Punkt nach Afrika.
Schwester Aurieta und José, der Fahrer, beide vom Projekt Turma do Flau aus Brasilia Teimosa, Udo, unser Reiseführer durch Brasilien im Sommer 2011, Adolf und ich sitzen im Auto
unter einem schattigen Baum vor dem Gefängnis des Hungers, wie es im Volksmund heißt und warten auf einen Rechtsanwalt.
Der Rechtsanwalt, ein ehemaliger Priester, ist Präsident der Gefängnispastoral von Pernambuco, einem Bundesstaat in Brasilien und Schwester Aurieta ist Vizepräsidentin.
Beide haben für uns einen Besucherantrag gestellt im Zuge der Pastoralarbeit. Sie haben nicht erwähnt, das wir Andrè besuchen möchten.
Andrè, ein Junge aus der Turma do Flau, lernten wir vor 6 Jahren kennen, als die Weltjugendtage in Köln waren. Er gehörte zu der Gruppe junger Brasilianer aus der Turma do Flau, die in das
Kloster Bardel angereist waren. Von dort aus fuhren sie nach Köln und später in viele Gemeinden, Schulen und Kirchen und erzählten durch Tänze und Lieder von ihrer Heimat Brasilien. Adolf
und auch andere aus dem Aktionskreis betreuten die Gäste während ihres Aufenthaltes in Bardel. Andrè war der einzige, der liebevoll zu Adolf Opa sagte. Andrè war damals 16 Jahre
alt.
Irgendwann rutschte er in die Drogenszene. Wir hatten so oft von dieser großen Gefahr gehört. In der Turma do Flau hängen an einer Wand im Eingangsbereich 15 Kreuze mit Namen. 15
Jugendliche aus der Turma do Flau, ermordet auf den Straßen von Recife. Als Andrè Schwester Aurieta um Hilfe bat, schickte sie ihn auf ein kleines Anwesen weit aufs Land, wo er freudig bei
der Landarbeit mitwirkte. Alles schien gut, biss er bat, wieder in Brasilia Teimosa leben zu dürfen. Schwester Aurieta besorgte ihm eine Unterkunft, und dort holte ihn die Drogenszene wieder ein.
Man weiß nicht, wer ihm die Waffe besorgt hat. Man weiß nicht, wer ihn genötigt hat. André wurde beim Einbruch in eine Apotheke erwischt und angeschossen. Der Durchschuss hatte seine Leber
schwer beschädigt. Im Gefängnis operierte man ihn notdürftig und legte ihn auf den nackten Boden. Die Operation war missglückt. André riss sich das Pflaster vom Leib. Die Wunde platzte auf, dass
das Eingeweide zu sehen war. Mit gefesselten Händen lag er auf dem Boden. Grüne Brühe floss aus seinem Mund. So fand ihn Schwester Aurieta vor und als sie es uns erzählt,
schluchst sie laut auf.
Der Rechtsanwalt kommt mit einem PKW in Begleitung einer älteren Dame. Sie trägt wie Schwester Aurieta ein T-Shirt mit der Aufschrift: Du hast mich besucht, als ich im Gefängnis war.
Kurze, höfliche Begrüßung. Dann gehen wir gemeinsam, nur José wartet draußen, in das verwitterte und vergitterte Gebäude. Unsere Pässe werden streng kontrolliert. Dabei erzählen die
Justizbeamten, dass hier am Sonntag die Hölle los war. Sie sprechen von Meuterei, Aufstand, Hungerstreik. Aber im Moment sei es ruhig. Die Abteilung ist für 60 Gefangene vorgesehen, aber 360 sind
z. Zt. hier. Er müsste 30 Aufsichtsbeamte haben, sagt der Uniformierte, aber er hat nur 5, und dabei zuckt er mit den Schultern. Bewaffnet geht er nicht zu den Gefangenen,
beteuert er noch und schließt das Tor zu der mit einem Wachmann besetzten Eingangsschleuse auf.
Wir gehen hindurch, in den Gefängnisraum, gehen durch fast dunkle Gänge. Junge Strafgefangene mit freien Oberkörpern bewegen sich an uns vorbei, sehen uns erstaunt an . Adolf tritt
auf sie zu, reicht dem einen oder anderen seine Hand, klopft ihnen auf die Schulter. An beiden Seiten des Ganges befinden sich Gitter in den Mauern. Vielleicht ein Meter hoch und 2 Meter breit.
Ein paar dunkelhäutige Gestalten kauern auf der nackten Erde. Erst traue ich mich nicht, sie anzusehen. Ich möchte sie nicht wie Tiere hinter Gitter angaffen und schaue ihnen doch ins
Gesicht und bekomme traurige und auch stumpfe Blicke zurück. Der Rechtsanwalt und Schwester Aurieta geben uns zu verstehen, dass wir hier warten sollen und verschwinden in den Gängen.
Sie suchen André, denke ich. Für einen Moment fühle ich mich alleine. Aber ich vertraue Schwester Aurietas Kraft, auch wenn sie nicht da ist. Schließlich war Pater Beda vor einem halben Jahr auch
hier. Aber ich weiß auch, dass Kardinal Lohrscheider in Fortaleza bei einem Besuch im Gefängnis gekidnappt wurde. Nach kurzer Zeit sind sie wieder da. Wir können weiter gehen, an den
braunen Männer vorbei, die sich wie wir auf den Hof zu bewegen. Sie gehen zum Sonnenduschen, so sagt man hier. Der Hof ist voller Menschen. Jeder hat vielleicht 2 qm zur
Verfügung. Der Rechtsanwalt richtet das Wort an sie und er erzählt von dem Besuch aus Deutschland und das wir ihnen helfen wollen. Da stößt mich Udo an und neben ihm steht André. Er ist
keine 16 mehr, sondern 22 Jahre. Das Gesicht ist blass und mager. Er trägt ein sauberes T-Shirt und eine Jens. Seine schwarzen, krausen Haare sind ganz kurz geschnitten und ein schmaler
Backenbart lässt ihn gepflegt aussehen, soweit das hier möglich ist. Die braunen Augen lachen nicht mehr aber sie weinen auch nicht. Wir umarmen uns herzlich. Dann dreht sich auch Adolf um,
stutzt und nimmt den jungen Mann in seine Arme und ich sehe, wie es ihn berührt. André fährt sich mit der flachen Hand durch Haare und Gesicht, dann sagt er: „Seit nicht traurig, es kommen auch
wieder bessere Zeiten.“ Udo übersetzt und fügt hinzu: „Einen weiten Weg haben Adolf und Brigitta zurückgelegt um dich zu besuchen und dir Mut und Hoffnung zu geben.“ Wieder streicht André
mit seiner Hand durch sein Gesicht und sagt: „Daran erkennt man wahre Freunde.“ Ich erkläre noch, dass ich an seine Kraft glaube, aber er sieht sich ängstlich um und verschwindet wieder
unauffällig durch die Menge.
Der Rechtsanwalt hat seine Rede beendet. „Zurück“, sagt Udo. Zuvor die Letzte, bin ich jetzt die Erste. Ich bahne mir den Weg durch die braune Menge.
„Weiter, weiter,“ treibt Udo. Er weiß, hier braucht nur einer durchdrehen, dann ….....
Als wir die Papiere zurück bekommen erzählt der Justizbeamte von einer Vergewaltigung und einer Messerstecherei in der kurzen Zeit. Und er sagt noch:
„Macht euch nichts vor, hier ist die Wirklichkeit.“
Nach 5 Tagen, kurz vor unserer Abreise, sprechen Udo und ich noch einmal mit Schwester Aurieta über André. Aurieta erzählt alles ausführlich und sagt, dass sie Andrés Mutter
hilft. In das Gefängnis hat sie eine Matratze geschafft, denn die Sträflinge teilen sich dort zu zweit eine Decke oder Matratze. Und sie sagt, dass unser Besuch in der
Strafanstalt nicht nur für André und seine Mutter von großer Bedeutung war, sondern auch für sie, denn, sie fängt wieder an zu weinen und schlägt ihre kleine Faust auf ihre Brust und ruft: „Ich
habe Schuld, ich habe Schuld.“
Schwester Aurieta gibt sich die Schuld. Diese Frau, die tausenden von Kindern und Jugendlichen vor diesem unwegsamen Schicksal bewahrt hat, die etwa 30 Jahre in dem Elendsviertel Brasilia
Teimosa mit den chancenlosen Menschen gelebt und für sie mit einer unbeschreiblichen Energie gekämpft hat und ihnen ein Gesicht gegeben hat bei den Behörden von Recife und bei der Regierung
von Pernambuco und bei dem vorherigen Präsidenten Inacio Lula da Silva. Diese Frau klagt sich an, weil sie es nicht verhindern konnte, dass eins ihrer Kinder den Verführungen der Droge
nicht widerstanden hat.
Doch ich klage an: Eine Regierung, die über 65 % ihrer Bevölkerung achtlos zur Seite schiebt, die die Kinder der armen Schicht ohne brauchbare Bildung aufwachsen lässt.
Eine Drogen-Mafia, die aus Geldgier junge Menschen in Sucht, Elend und Tod treibt.
Ich klage mich an, weil ich diese Dramatik kenne und sie nicht laut in die Welt schreie.