Während der letzten Brasilien-Begegnungsreise im April 2019 begleitete uns auch für einige Tage Frau Sabine Lipp aus Nottuln (Foto 2.v.l. mit der deutschen Besuchergruppe), die eine berufliche "Sabbatzeit" zum Anlass nahm, einen freiwilligen Einsatz in einem Sozialprojekt in Nordost-Brasilien zu unternehmen, der sie nach Juazeiro do Norte im Bundesstaat Ceará zum Projekt Nosso Lar (Unser Zuhause) führte. Hier ihr Bericht nach zwei Monaten Mitarbeit und Mitleben vor Ort:
Meine Zeit in Brasilien in „NOSSO LAR“
Ich habe das Glück gehabt, vom 28. Januar 2019 bis zum 27. April 2019 drei Monate meines Lebens im Nordosten von Brasilien zu verbringen. Über den Aktionskreis Pater Beda und insbesondere über Maria und Udo Lohoff ist mir dieser Aufenthalt ermöglicht worden, wofür ich sehr dankbar bin. Es ist für mich eine sehr wertvolle Zeit gewesen und ich hoffe, mit diesem „Kurzbericht“ ein wenig meiner Erlebnisse und Gefühle weitergeben zu können.
Nachdem ich Ende Januar abends in Recife gelandet bin, wurde ich am Flughafen von Schwester Denise abgeholt, die im Projekt Turma do Flau im Ortsteil Brasilia Teimosa in Recife lebt und arbeitet. Ich wurde herzlich empfangen und nach einem Tag Aufenthalt dort ging es mit dem Flugzeug weiter nach Juazeiro do Norte, wo ich 2 Monate verbrachte und im Projekt „Nosso Lar“ mitgearbeitet habe. Juazeiro do Norte liegt ca. 600km von Recife in Ceara, im Sertao/ Landesinneren mit ca. 250.000 Einwohnern. Bekannt ist diese Stadt über seine Grenzen hinaus durch die Verehrung des Padre Ciceros (*1844,+1934)), der durch sein Leben großen Einfluss auf das politische und soziale Leben in Juazeiro do Norte und des Hinterlandes Cariri hatte.
Das Projekt „NOSSO LAR“ wird von Helio Alves da Silva und seiner Frau Edivania mit viel Engagement, Professionalität, Leidenschaft und noch mehr Herz geleitet. Es ist eine Einrichtung, die 125 Kindern und Jugendlichen im Alter von 10-18 Jahren ermöglicht, neben der Familie und Schule ihre Freizeit miteinander zu verbringen.
Ziel der Arbeit des Teams ist es, die Kinder zu selbstbewussten, selbstdenkenden und reflektierten Menschen in der brasilianischen Gesellschaft heranwachsen zu lassen. „Ihr Kinder seid die Zukunft und ihr könnt sie gestalten und ändern“ ist ein Leitgedanke des Projekts. Die soziale Erziehung ist der „Kern“ der Arbeit und durchdringt sie dort täglich in allen Bereichen.
Die Kinder verbringen je nach Schulbesuchszeit entweder vormittags oder nachmittags ca. vier Stunden im Projekt. Die Eltern bzw. Erziehungsverantwortlichen melden die Kinder für ein Jahr an und werden auch selbst durch 4 Versammlungen im Jahr und durch Hausbesuche in die Arbeit mit eingebunden. Täglich erhält jedes Kind eine Zwischen- und eine Hauptmahlzeit, die von Jenilda (der einzigen Köchin und Hauswirtschaftskraft im Projekt!!!) zubereitet wird. Für manche Kinder sind dies die einzigen Mahlzeiten am Tag.
Sie haben außerdem die Möglichkeit, an Angeboten wie Basteln, Handarbeiten, Musik, Theater, Jiu Jitsu, Capoeira, Tanz und Theater teilzunehmen sowie an Ausflügen (z. B. in ein Schwimmbad) und Festen (z.B. Karneval oder Kirchenfeste). Diese Angebote werden von insgesamt vier Mitarbeiter*innen durchgeführt.
Einmal in der Woche findet ein „Nucleo-Tag„ statt, in dem die Kinder und Jugendlichen begleitet von drei Sozialpädagogen in Kleingruppen über eigene Wünsche, Möglichkeiten, Fähigkeiten, Familie, soziale Strukturen, ihre Rolle in der Gesellschaft und vieles mehr nach einer Sozialstudie „Aflatoun“ („Internationale niederländische Nichtregierungsorganisation, die sich darauf konzentriert, Kinder über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären und finanzielle Ressourcen durch soziale und finanzielle Bildung zu verwalten“) sprechen und diese Themen bearbeiten.
Im Projekt gibt es außer Helio und Edivania, die ehrenamtlich die Leitung des Projekts machen, noch vier Angestellte, die die Angebote jeden Tag durchführen, sowie eine Köchin (für 120 Kinder) und drei Sozialpädagogen, die einmal wöchentlich den Nucleo-Tag durchführen. Mit der psychologischen Fakultät wird guter Kontakt gehalten und zwei Student*innen haben einmal wöchentlich einen Praktikumstag im Projekt.
Raumpflegerinnen oder Hausmeister gibt es nicht. Die Räume und Toiletten werden von den Kindern und Jugendlichen (natürlich mit Hilfe der Mitarbeiter*innen) selbst gepflegt.
Dies sind die Fakten und Zahlen des Projekts. Über die eigentlichen Werte der Arbeit dort sagt dies noch nicht viel aus.
Ich habe die Arbeit dort als sehr wertvoll empfunden. Die Kinder und Jugendlichen erfahren durch die Mitarbeiter jeden Tag Wertschätzung, die durch Ansprache und auch Körperkontakt wie Umarmungen gezeigt werden. Es herrscht eine fröhliche und freundliche Grundstimmung im Projekt, ein Ort, an dem die Kinder sich gut aufgehoben fühlen. Es ist ihr Schutzraum, in dem sie sich frei bewegen können. Dies ist für die meisten Kinder in der Familie, in der Schule und im Alltag auf der Straße nicht selbstverständlich. Dort herrscht oft das Recht des Stärkeren und Gewalt (körperliche, psychische und sexuelle) ist an der Tagesordnung. Drogen und Alkohol bestimmen viele Handlungsweisen. Die täglich gelebte Armut (existentielle Armut!!!) wird überall spürbar. Jedes Kind des Projekts hat ein eigenes Schicksal und eine eigene Geschichte. Das Wissen und Einbeziehen dieser eigenen Biografie ist sehr wichtig.
Das Projekt „NOSSO LAR“ arbeitet dieser Realität mit Leidenschaft und Herz entgegen.
Vertrauen, Zuneigung, Toleranz, Liebe, Fröhlichkeit und Hoffnung sowie Kraft zu handeln wird in „NOSSO LAR“ täglich gelebt und aufgezeigt. Dies drückt auch schon der Name „Nosso Lar“ aus, der übersetzt „Unser Zuhause“ heißt. Ich habe dort vielen Gesprächen beigewohnt, in denen Kindern und Jugendlichen aufgezeigt wurde, wie man ohne Gewalt Probleme lösen kann; wo Probleme in den Familien und Schulen bearbeitet wurden; wo Zuneigung ohne Übergriffe gezeigt wurde; wo Hilfe gegeben wurde; wo manchmal auch nur zugehört wurde. Ich habe Kinder erlebt, die in diesen Stunden im Projekt aufblühen und befreit lachen können, die ein Miteinander spüren und tolerant sind.
Die Mitarbeiter werden in Teamgesprächen und Fortbildungen (an Wochenenden) auf diese Schwerpunkte sensibilisiert und fortgebildet. Ich habe dort eine Professionalität erlebt, von der wir uns hier in Deutschland so einiges abgucken können. Diese Professionalität ist verbunden mit Einsatz, Geduld und Herzlichkeit, mit Nächstenliebe.
Ohne die finanzielle Unterstützung aus Deutschland kann das Projekt nicht bestehen. Helio versucht täglich, auch innerhalb der Stadt Juazeiro do Norte Unterstützer zu finden, die z. B. regelmäßig Lebensmittel oder Materialien spenden. Anträge an Stadt und Staat für finanzielle Unterstützung werden gestellt. Dies alles ist aber schwierig zu erreichen und auch die neue politische Führung in Brasilien arbeitet kontraproduktiv für jede soziale Einrichtung. Es bestehen im Projekt schon Überlegungen, es nur noch halbtags durchzuführen, da es einfach an Geld fehlt.
Ich könnte nun noch viele persönlich Erlebnisse schildern, von der Herzlichkeit, die mir entgegengebracht wurde, aber auch von dem Leid, was ich gesehen habe. Es gab so viel „Bewegendes“ für mich, dass ich dann kein Ende finden würde.
Abschließend möchte ich hier nur sagen:
Ich ziehe den Hut vor den Mitwirkenden der Arbeit dort und werde viele dieser Erfahrungen in meinem Herzen aufbewahren. Ich bin sehr dankbar, dies alles erlebt haben zu dürfen.
Sabine Lipp, Nottuln, 14. Mai 2019
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Stefan Mairose (Dienstag, 14 Mai 2019 07:39)
Hallo Sabine, das ist ein toller Bericht, den Du da geschrieben hast. Und danke für Deinen Einsatz!